Um das Denken und Handeln von Scientology bzw. Scientologen nachvollziehen zu können, muss man sich der Gedankenwelt von L. Ron Hubbard nähern, dem Gründer des Psychokults.
Hubbard zeichnete ein extremes Schwarz-Weiß-Denken aus – entweder ist jemand für Scientology bzw. offen dafür oder er ist gegen Scientology.
Wenn jemand gegen Scientology ist, dann stecken aus seiner Sicht Crimes (Verbrechen) dahinter, die er gegen Scientology oder die Geistige Gesundheit an sich verübt hat. Aus dieser „Logik“ heraus ist z.B. jeder Psychologe bzw. Psychiater automatisch ein Feind, da diese auf dem Gebiet der Geistigen Gesundheit tätig sind, während sich Scientology als einzige Autorität in dieser Frage sieht. Regierungsmitglieder, Richter, Journalisten werden ebenfalls als Feinde angesehen, wenn sie Scientology untersuchen, hinterfragen, dagegen auftraten usw. – was letztendlich auf jede Person zutrifft.
Erstmals genauer beschrieben hat das L. Ron Hubbard im geheimen Handbuch des Rechts, das er 1959 verfasste und das nach wie vor in den Ausbildungsunterlagen des Office of Special Affairs (OSA) zu finden ist …
Jeder – und ich meine wirklich: jeder – Scientologe tritt einer derart definierten Person in diesem Sinne gegenüber, wenn diese z.B. gegen Scientology demonstriert. Standardfrage eines Scientologen: „What are your crimes?“ …
Während das Handbuch des Rechts auch für durchschnittliche Scientologen geheim ist, war es ein anderes Pamphlet nicht, wie z.B. die Fair-Game-Regelung, das Freiwild-Gesetz. Hubbard formulierte es im Rahmen seiner Schrift Penalties for lower Conditions (Strafen für niedere Zustände) im Jahr 1967 …
Darin wird beim Punkt Feind folgendes festgehalten: „Regel für Unterdrückerische Personen anwenden. Freiwild. Darf seines Eigentums beraubt oder (in jeder Weise durch jeden Scientologen) verletzt werden, ohne dass dies disziplinarische Folgen für den Scientologen hat. Darf reingelegt, verklagt, belogen oder zerstört werden.“
Entsprechend ging L. Ron Hubbard auch vor, wie eine Ethics Order aus dem Jahr 1968 zeigt, die Dank eines Gerichtsverfahrens der Nachwelt erhalten blieb – siehe Punkt 4 …
Im Jahr darauf nahm Hubbard das Prinzip Fair Game (Freiwild) zurück: „Die Praktik, Personen zu Freiwild zu erklären wird eingestellt. Das Wort Fair Game darf nicht mehr auf einer Ethikorder aufscheinen. Es verursacht eine schlechte öffentliche Meinung über uns. Dieser Richtlinienbrief ändert keine Vorschriften über die Behandlung oder den Umgang mit einer Unterdrückerischen Person.“
Ganz im Gegenteil: Seit den 70er-Jahren wurde das Freiwild-Gesetz massiv im Rahmen des Guardians Offices und später von dessen Nachfolger, dem Office of Special Affairs (OSA), eingesetzt – gegen Regierungen, Richter, Journalisten, Kritiker und abgesprungene Scientologen. Das jüngste Beispiel, wie ein Journalist zum Freiwild wurde, datiert aus dem Mai 2007.
John Sweeney drehte anlässlich der Eröffnung der Scientology-Organisation in London für das Dokumentationsmagazin Panorama von BBC eine Reportage über Scientology. Sweeney ist ein mehrfach ausgezeichneter Journalist, der über Verstöße gegen Menschenrechte in Tschetschenien, Kosovo oder Algerien berichtete. Nach seiner Erfahrung mit Scientology, wünschte er sich wieder „nach Zimbabwe zurück. Sich vor Mugabes Schlägern im Kofferraum zu verstecken, war wesentlich einfacher.“
Im Rahmen seiner Reportage fuhr er nach Amerika, recherchierte und führte Interviews – mit dabei waren immer Mitglieder von OSA, die ihn, angeführt von Tommy Davis, ihrerseits filmten, ihn in Wortduelle verwickelten usw. Es war klassischer Psychoterror, der letztendlich Sweeney dazu brachte, dass er ausrastete: Er brüllte Davis minutenlang an.
Sweeney war Freiwild , das „jeder Scientologe reinlegen, verklagen, belügen oder zerstören“ durfte. Und so wurde er reingelegt und man versuchte danach, seinen Ruf als Journalist zu zerstören.
Binnen kürzester Zeit wurden zig Tausende DVDs seines Ausrasters gepresst und verteilt. BBC wurde nahegelegt, sich von Sweeney zu trennen. John Travolta forderte in einem halboffenen Brief, der auch an Presseagenturen versandt wurde, dass „dieser Mann kein Forum für seine Vorurteile, seine Scheinheiligkeit und seinen Hass bekommen sollte.“ Am Tag der Panorama-Sendung veröffentlichte Scientology dann den Ausraster Sweeneys auf YouTube.
Scientology gelang es nicht, den Beitrag auf BBC zu verhindern – hier die deutschsprachige Fassung von Scientology and me …
Ich hatte 2014 einen Artikel für Wikipedia über Fair Game verfasst, der leider dank der speziellen Wikipedia-„Kohorten“ um JD, Itti & Co „eingedampft“ wurde, aber dank des Wikipedia-Archivs nach wie vor zu finden ist …
Darin findet/fand man u.a. die Beispiele von Paulette Cooper (1976),Operation SnowmWhithe (1979), Larry Wollersheim (1980), Gerald Armstrong (1981), Richard Behar (1991), den Internal Revenue Service (IRS – 1993), Cult Awareness Network (CAN – 1996), South Park (2005), John Sweeney (2007), Tampa Bay Times (2009) und Mark Rathbun (2011).
In der englischsprachigen Wikipedia – hier der Link – findet man noch weitere Beispiele bzw. welche aus dem jahr 2012 und 2015. Wahrscheinlich gibt es dort keine Scientology-Agenten wie in der deutschsprachigen Ausgabe.
Fazit: Fair Game, das Freiwild-Gesetz, wird von Scientology bis heute angewendet, auch wenn die Methoden etwas „zivilisierter“ ausfallen.
Womit ich bei einem anderen Punkt wäre: Am Ende meines zensurierten Wikipedia-Artikels ging ich auf ein besonderes Goodie ein, nämlich den Auditing-Prozess mit dem Namen „R2-45″ – R bedeutet Routine, die 45 bezieht sich dabei auf das Kaliber eines Colts …
L. Ron Hubbard beschrieb R2-45 in seinem Buch Das Schaffen menschlicher Fähigkeiten (The Creation of Human Ability – 1954) folgendermaßen:
„R2-45: Ein enorm wirksamer Exteriorisationsprozess, dessen Verwendung allerdings in dieser Gesellschaft zu dieser Zeit sehr unpopulär ist.“
Exteriorisation bedeutet im Scientology-Sprachgebrauch das „Heraustreten des Thetans aus dem Körper“ und kann umgangssprachlich auch als Tod bezeichnet werden.
Hier das Original …
Darüber hinaus gab es keine Vorgaben für den Prozess R2-45. Der Autor Stewart Lamont berichtete von einem Vortrag Hubbards in Phoenix/Arizona, wo Hubbard R2-45 demonstrierte, indem er mit einem Colt 45 in den Boden schoss.
Der Autor George Malko wusste von einem weiteren Vortrag Hubbards in Washington, D.C., zu berichten, der Ende der 50er-Jahre stattgefunden hat und wo er ebenfalls zu Demonstrationszwecken eine Kugel vom Podium aus abfeuerte.
Das Magazin TIME schrieb, dass „Hubbard einmal dunkel darüber gesprochen hatte, Feinde via Auditing-Prozess R2-45 zu behandeln, wobei er eine 45er-Kugel meinte, die jemand in den Kopf geschossen wurde. Aber Scientologen meinten, dass dies nur als Witz zu verstehen ist.“
Womit wir wieder bei der vorher genannten Ethik-Order von Scientology vom 6. März 1968 wären …
In ihr werden 12 Personen als „Bande von Verbrechern“ bezeichnet und dabei in Punk 7 festgehalten: „Wenn ein Mitglied der Sea Org mit einem der genannten Personen in Kontakt kommt, hat er Auditing Prozess R2-45 anzuwenden.“
Die Ethics Order wurde, wie von Hubbard angeordnet, in der Scientology-Zeitschrift (The) Auditor veröffentlicht …
Vier weitere Personen wurden kurz danach benannt …
Zur Abrundung L. Ron Hubbard persönlich …
In einer englischen TV-Dokumentation wurde auf diesen Umstand 1968 ebenfalls Bezug genommen …
Hier die komplette Dokumentation …
Ein weiteres Fazit: Der „Ungeist“ Hubbards entfaltet bis heute seine Wirkung und wabert vor allem im Office of Special Affairs (OSA). Die Vorgaben sind intern die gleichen geblieben – nichts was Hubbard einmal festgelegt hat, wird infrage gestellt oder als veraltet gesehen. Lediglich nach außen kann OSA das eine oder andere behaupten. Intern sieht es völlig anders aus bzw. bleibt alles unverändert.
Aus diesem Denken heraus lassen sich auch Eskapaden, wie „The Hole“ verstehen. In dieses „Loch“ wurden vor gar nicht langer Zeit Dutzende Führungskräfte gesteckt bzw. sind noch immer drinnen, weil es einem Diktator so beliebte und wo Zustände herrschten, von denen man vielleicht annahm, dass diese in Nordkorea Usus wären.
Mehr dazu im nächsten Blog …
Fotos: Scientology-Publikationen (6)